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Das diagnostische Interview versus standardisierte Leistungstest in der Lernstandsanalyse Mathematik
Das diagnostische Interview ist im Gegensatz zu standardisierten Tests in der Lernstandsanalyse Mathematik eine individuelle mathematische Unterhaltung mit dem Kind. Warum diese Form der Lernstandsanalyse einem standardisierten Test in vielen Fällen überlegen ist, erkläre ich in diesem Beitrag.
Wenn Kinder Schwierigkeiten beim Rechnen haben, sich diese manifestieren und die Lernpartner sich nicht weiterhelfen können, wird schnell nach Diagnosen und Analysen gerufen. Doch was passiert eigentlich, wenn man den Lernstand mittels klassischer Leistungstests überprüft? Welche Aussagekraft hat eine üblicherweise eingesetzte, standardisierte mathematischer Diagnostik, welche Nachteile hat sie und wie kannst Du die Lernstandsanalyse in der Lerntherapie besser gestalten, um eine sinnvolle individuelle Förderung zu erstellen?
In diesem Beitrag stelle ich die beiden Testverfahren zur Lernstandsanalyse bzw. Diagnostik von Rechenschwierigkeiten gegenüber und schreibe über die Vor- und Nachteile der Verfahren.
Erste Veröffentlichung 12.01.2022, überarbeitet 19.04.2024
Standardisierte Testverfahren – was ist das eigentlich?
Um herauszufinden, ob und wie der aktuelle Wissensstand (!) eines Kindes von einem genormten, erwarteten Wissensstand abweicht, benötigt man einen standardisierten Test. Was bedeutet das überhaupt, „standardisiert“? Das Landesinstitut für Schule in Bremen [1] beschreibt es so:
Objektiv: Die Testergebnisse sind unabhängig von der Person, die den Test durchführt, auswertet und interpretiert.
Reliable: Die Testergebnisse sind zuverlässig. Das heißt, wenn man den Test noch einmal durchführen würde, käme man zu dem gleichen Ergebnis.
Valide: Ausmaß, zu dem ein Test das misst, was er zu messen vorgibt. Ein mathematischer Test, der die allgemeine Kompetenz „Mathematisch argumentieren“ der Bildungsstandards Sekundarstufe I, testen soll, muss genau dies abbilden. Die Testergebnisse sollten zum Beispiel mit ähnlichen Tests übereinstimmen.
Weitere wichtige Gütekriterien sind Testfairness (keine Bevorteilung von bestimmten Schülergruppen), Ökonomie und Nützlichkeit.
[1] Landesinstitut Schule Bremen
Das beinhaltet, dass der Prüfer diesen Inhalt nicht verstehen muss – er darf ja schließlich nicht helfen, damit die Bedingungen vergleichbar sind.
An dieser Stelle kann man das „Zuverlässigkeitskriterium“ allgemein infrage stellen. Ob es wirklich möglich ist, einen Test zu konstruieren, der bei einer späteren Durchführung dasselbe Ergebnis liefert, sei dahingestellt.
Die Vorteile standardisierter Leistungstest
- Sie haben eine klare Anleitung, wie sie durchzuführen sind.
- Damit die Ergebnisse der getesteten Kinder „vergleichbar“ (bewusst in Anführungszeichen gehalten) und kategorisierbar sind, darf der Prüfer nicht in den Test eingreifen und selbstverständlich gelten klare Regeln für den Zeitpunkt der Testdurchführung (Alter, Klassenstufe, Zeitpunkt im Schuljahr)
- Sie sind vorgefertigt, haben eine Auswertehilfe und am Ende fallen nach einfacher Korrektur die Zahlen heraus, die sagen, wo sich das Kind wohl befinden mag.
- Die Interpretation kann zeitlich unabhängig erfolgen.
Nachteile standardisierter Testverfahren
Sie liegen auf der Hand: Was ein solcher Test abfragt, ist in der Regel, wie die schriftlichen Leistungen eines Kindes zum Testzeitpunkt für die geprüften Inhalte sind. Nichts anderes als eine Zusammenfassung des Schulstoffes des vergangenen Schuljahres reduziert auf das vermeintlich Wesentliche. Was wir aber nicht wissen, ist:
- Hat das Kind verstanden oder nur auswendiggelernt?
- Wie steht es um die Fähigkeiten, die in dieser Klassenstufe als bekannt vorausgesetzt werden?
- Kommt das Kind mit dem Prüfungsformat zurecht?
- Hatte das Kind einen „schlechten Tag“ bevor es den Test geschrieben hat?
- Hatte es eventuell Angst oder Bedenken wegen der Prüfungssituation?
- Die Fehler sehen wir, aber die Wurzel des Fehlers bleibt unerkannt bzw. unserer Interpretation überlassen.
- Am Ende weiß man meist das, was man vorher schon wusste (das Kind zeigt schlechtere Leistungen als erwartet werden), aber nicht, woran das liegt und wo genau man mit der Differenzierung ansetzen muss.
Wo punktet das diagnostische Interview? Am Beispiel erklärt.
Nehmen wir an, ein Kind rechnet die Aufgabenstellung 82-15 = *31. Das kann sehr viele verschiedene Ursachen haben. Das Kind…
- hatte das Thema schlicht und ergreifend noch nicht in der Schule, weil die Lehrkraft eine andere Reihenfolge gewählt hat als der Lehrplan vorsieht
- war bei diesem Thema krank und hat es nicht mitbekommen.
- hat kein Operationsverständnis und weiß gar nicht genau, was „minus“ bedeutet.
- hat kein Verständnis im dekadischen Zahlensystem.
- hat versehentlich 82-51 gerechnet (weil „verlesen“) und diese Rechnung aber korrekt durchgeführt.
- hat Zehner und Einer bewusst vertauscht („2-5 geht nicht, also muss ich die größere Zahl nehmen, das ist die 8, denn die größere Zahl steht immer vorne, das hat meine Lehrerin gesagt“), weil es ein Konzept fehlerhaft interpretiert.
- kombiniert die Zahlen wild und ohne Verständnis.
- und einige mehr.
Alles das kann ein Prüfer zwar in das obige Ergebnis interpretieren – aber nur im diagnostischen Gespräch kommt man der Wurzel des Problems viel zügiger deutlich näher.
Das diagnostische Interview – miteinander reden statt stumpf abfragen
Im diagnostischen Interview dagegen läuft auf den ersten Blick alles scheinbar unstrukturierter ab. Das Ziel ist eine pädagogische Lernstandsanaylse, auf deren Basis eine individuelle Förderplanung erstellt werden kann. Es gibt zwar einen Leitfaden für die Inhalte, aber die Beobachtungen werden im Gespräch gemacht. An den Beobachter setzt das diagnostische Interview andere Anforderungen. Selbstverständlich muss hier die Person genau wissen, welche Frage sie aus welchen Gründen stellt und die Antworten des Kindes entsprechend interpretieren können. Ein diagnostisches Interview kann nur führen, wer fachlich fest im Sattel sitzt.
Welcher Test ist gut und wie mache ich das in der Praxis?
Einen Überblick über die aktuellen Testmöglichkeiten, auch kostenfrei erhältliche bekommst Du im Seminar „Lernstandsanalyse Mathematik – diagnostisches Interview und spielerische Diagnostik“.
Dort werden wir auch die Interviewsituation üben sowie Spiele und Material auf ihre Tauglichkeit im diagnostischen Gespräch untersuchen.
Die Vorteile des diagnostischen Interviews
- Die Testsituation wird zu einem Gespräch auf Augenhöhe. Das Kind ist entspannter, kann Vertrauen fassen und kommt idealerweise zu einem „hier wird mir geholfen“ Gefühl anstelle eines „hier werde ich geprüft“ Gefühl.
- Wenn ein Kind an einer Aufgabe Schwierigkeiten hat, kann man durch gemeinsames Herantasten die Ursache des Problems sehr viel schneller und gezielter einkreisen. Der Beobachter kann seine Vermutungen sofort überprüfen und dem Kind damit auch weitere negative Prüfungserlebnisse ersparen. (Wenn das Kind das 1 * 1 nicht verstanden hat, ist es sinnbefreit, es weitere Aufgaben damit rechnen zu lassen – es verliert nur Energie, die es dann bei den Folgeaufgaben nicht mehr hat).
- Das Gespräch kann flexibel geführt werden. Oft kann man mit einer Aufgabe viele Punkte „abhaken“.
- Wenn das Kind aus sprachlichen Gründen an einer Fragestellung „hängt“, kann das Hindernis schnell aus dem Weg geräumt werden.
- „Blackout“ Situationen werden vermieden.
- Durch das Gespräch sieht der Beobachter auch noch andere Aspekte: Wie geht das Kind mit schwierigen Aufgaben um? Ist es in der Lage, Fragen zu stellen? Wie formuliert es diese? Wie sicher ist es in diesem Bereich, wo fängt die Unsicherheit an? Ist es bereit, sich helfen zu lassen? Wie ausgeprägt ist der (nicht nur mathematische!) Wortschatz? Traut sich das Kind etwas zu? Überschätzt es sich oder unterschätzt es sich? Sind es Flüchtigkeitsfehler oder Verständnislücken? Hat das Kind Schwierigkeiten, seine Antworten schriftlich zu formulieren?
- Die Bereiche, die Förderung benötigen, liegen nach dem Gespräch glasklar auf dem Tisch- die Lernausgangslage lässt sich gut bestimmen.
- Last, but not least: Unter Umständen konnten während des Interviews vorhandene Unklarheiten des Kindes beseitigt werden und es geht gestärkt aus der Situation heraus.
Nachteile des diagnostischen Interviews
- Vergleichsweise unstrukturiert, da man sich „nur“ an einem Leitfaden orientiert – es kann auch inhaltlich in der Reihenfolge „durcheinander“ gehen.
- Es dauert länger und ist schwieriger zu dokumentieren, da der Interviewer seine Beobachtungen gleich notieren muss.
- Das diagnostische Interview liefert kein standardisiertes Ergebnis. Damit scheidet es als Instrument für eine Beantragung eines Nachteilausgleichs nach §35a aus. In diesem Fall muss man einen standardisierten Test durchführen.
Diagnostisches Interview: noch mehr Potenzial bei „testmüden“ Kindern – Next Level Diagnostik mit Spielen
Wenn Kinder in der Schule Rechenschwierigkeiten haben, sind sie oft an der Grenze der Leistungsverweigerung. Ein Arbeitsblatt löst schon leichte Panik und Versagensangst aus, Fragen von Erwachsenen dienen dem Kind sowieso nur noch als Nachweis, dass es etwas nicht verstanden hat.
Diesen Teufelskreis kann das Interview wunderbar durchbrechen, weil es so flexibel ist. Je nachdem, wie viel der Beobachter im Vorfeld weiß, kann er die Art des Gespräches sehr individuell steuern:
- Eine gründliche Anamnese im Vorfeld ermöglicht zielgenaue Auswahl der Fragen sowie eine
- eventuelle Anpassung des Materials (schriftlich/ mündlich/ größer kopiert oder mit Symbolen versehen)
- eine Anpassung der Testsituation an die speziellen Bedürfnisse des Kindes: An der Tafel, mit Material, im gezielten Gespräch.
- Da es sich um eine Unterhaltung handelt, ist eine spielerische Überprüfung einzelner Teilaspekte möglich, sodass der Eindruck einer Testsituation fast vollständig aufgehoben werden kann. Dies ist besonders interessant, wenn es sich um Kinder im lerntherapeutischen Umfeld handelt, die im Anschluss an die Lernstandsanalyse regelmäßig zur Therapie kommen. In diesem Fall kann man die ersten Stunden gezielt zum Beziehungsaufbau nutzen und praktisch „nebenbei“ im gezielten Spiel den Therapieplan untermauern.
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Wie man lernt, wie Kinder denken könnten
„Alles schön und gut, aber ich habe verlernt, wie ich früher gedacht habe :)“ – höre ich Dich sagen. Es ist richtig, es bedarf ein wenig Übung und vor allem viel Zuhören, bis man sich in die mathematische Gedankenwelt der Kinder hineindenken kann. Mir haben die Bücher „Kinder und Mathematik – was Erwachsene wissen sollten“ [2] bzw. „Kinder rechnen anders – das KIRA Buch“ [3] hier sehr geholfen.
Eine große Hilfe sind mir auch meine sehr geduldigen Lerntherapiekinder, die mir immer wieder spannende Einblicke in ihre Art zu rechnen ermöglichen, indem sie mir geduldig erklären, wie sie rechnen. Zeit zum Zuhören zu haben, zahlt sich in diesen Situationen mehr als aus.
Zusammenfassung
Das diagnostische Interview ist für die lerntherapeutische Praxis das wichtigste Instrument, um den Lernstand des Schülers fundiert zu bestimmen. Es erlaubt tiefe Einblicke in die Denkstruktur des Kindes, auf deren Basis sich eine Förderung leicht aufsetzen lässt. Voraussetzung ist, dass sich die Lehrperson mit der Didaktik der Mathematik auskennt, sich auf das Kind einlässt und nach der ersten Überprüfung den Lernplan des Kindes im Laufe der Therapie weiterhin flexibel anpasst – was durch die Trainingssituation, die grundsätzlich im Dialog abläuft, natürlich gegeben ist.
Weiterführende Blogartikel/ Ressourcen
Literatur und Studien:
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[1] Landesinstitut Schule Bremen
[2] Kinder & Mathematik: Was Erwachsene wissen sollten (Wie Kinder lernen), Spiegel, H und Selter, C; 2013
[3] Das KIRA-Buch: Kinder rechnen anders: Verstehen und Fördern im Mathematikunterricht, Götze, D; Selter, C; Zannetin, E; 2019
Blogartikel:
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