Lerntherapie Dr. Dina Beneken

Flüssig Lesen lernen: Besser in der Schule durch Lesetraining?

von | Nov 24, 2021 | Grundschule, Lesen

Dein Kind liest stockend, sehr angestrengt und schrecklich ungern? Es hat zu wenig Zeit, um Tests zu schreiben und bearbeitet immer zu wenig Aufgaben? Dieser Artikel erklärt, wieso flüssiges (und damit auch schnelles) Lesen eine wichtige Grundkompetenz ist, und wieso es so wichtig ist, diese frühzeitig zu fördern.

Beitrag vom 1.Mai 2019, überarbeitet 11.09.2024

Was hat flüssiges und schnelles Lesen mit dem Schulerfolg zu tun? 

Kinder, die nicht flüssig lesen, sondern langsam und stockend, haben nicht nur Misserfolge im Fach Deutsch, sondern auch in anderen Fächern. Dort haben sie unter anderem Schwierigkeiten bei der Textbearbeitung, bei inhaltlichen Aufgaben wie Verständnisfragen zum Text und die Angst davor, beim Vorlesen aufgerufen zu werden. Die Probleme weiten sich aber schnell auf andere Fächer aus: Die Proben können nicht in der vorhandenen Zeit bearbeitet werden, da die Kinder sehr viel Energie auf den Lese- und Verständnisprozess der Aufgaben aufwenden. In Mathematik bedeutet ein mangelndes Textverständnis zusätzliche Probleme bei Textaufgaben. Ein kompetenter Leser dagegen kann sich voll und ganz auf die schulischen Inhalte konzentrieren und hat damit einen immensen Vorteil gegenüber schwachen Lesern.

Flüssig Lesen: Was macht einen guten Leser aus?

Welche Kompetenzen hat ein guter Leser? Wann sollte ich darauf achten, dass mein Kind diese Kompetenzen beherrscht? In welchem Umfang sollten sie bis zum Ende der Grundschulzeit entwickelt sein? Ist Geschwindigkeit alles? Kommt das flüssige Lesen „schon noch“ oder sollte ich etwas tun? Ist die Lesefähigkeit meines Kindes im Rahmen?

Definition: Leseflüssigkeit – was ist das eigentlich?

Im englischen Sprachraum gibt es den Begriff „fluency“ [1]. Dieser umfasst:

  1. das genaue Dekodieren von Wörtern:
    ein schwacher Leser dekodiert Wörter öfter sinnentstellend (sogenannte „Ratefehler“) und korrigiert sich seltener. Oft wird dadurch auch der Sinn des Satzes verändert und damit das Verständnis des ganzen Textes erschwert oder sogar unmöglich.
    Auch Leser, die flüssig lesen, machen hier und da Dekodierfehler. Sie bemerken sie aber und gehen darüber hinweg (wenn nicht sinnentstellend) oder verbessern sich selbständig. Nach Rasinski [2] ist ein angemessenes Textverstehen erst ab 95% fehlerlos kodierter Wörter möglich.
  2. die Automatisierung des Lesevorganges:
    schwache Leser müssen einen großen Teil ihrer Energie in die Entzifferung der Schrift und das Zusammensetzen von Wörtern investieren, während ein flüssiger Leser unbewusst und mühelos liest.
  3. eine angemessene Lesegeschwindigkeit:
    schwache Leser lesen oft sehr langsam. Das erschwert das Verstehen (was habe ich gerade gelesen?) und auch die Selbstkontrolle (macht es Sinn?). Es geht hierbei nicht um das Erreichen einer Höchstgeschwindigkeit (das Überfliegen von Texten ist eine später Entwickelte Kunst), sondern um eine Mindestgeschwindigkeit. Diese liegt im Grundschulalter bei 100-150 Wörtern pro Minute.
  4. die Fähigkeit, betont und segmentiert (in sinnvolle Abschnitte unterteilt) vorzulesen.
    Wer fähig ist, in einem Satz zusammengehörige Sachverhalte sinnstiftend zusammenzuziehen, ist in der Lage, zu verstehen, was er liest. Die Ausdrucksfähigkeit ist zum einen Voraussetzung für einen tiefen Verstehensprozess wie auch die Folge. Die korrekte Sprachmelodie zu beherrschen ist die Basis dafür.

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Die Entwicklung der Lesekompetenz im Laufe eines Schülerlebens

In der Wiener Längsschnittstudie [3] wurde die Entwicklung schriftsprachlicher Fähigkeiten von der 1. bis 8. Klasse an 120 Kindern untersucht. Die Autoren haben die Schüler anhand der Entwicklung der Fähigkeiten zur Mitte der 2. Klasse in Leistungsgruppen eingeteilt. Der Unterschied bei der Leseflüssigkeit, gemessen in WPM (Wörter pro Minute) war zu diesem Zeitpunkt schon erheblich: leistungsschwache Schüler kamen auf etwa 20 WPM, während leistungsstarke ca. 80 WPM erzielten (an dieses Ergebnis kamen leistungsschwache Kinder erst in der 8. Klasse!). In der Grundschulzeit ging die Schere in der Entwicklung weiter auseinander. Während sich die Lesegeschwindigkeit der schwächeren Kinder kaum entwickelte, machten die leistungsstarken Kinder umso größere Fortschritte.
Auch Hulslander et al. [4] weisen eine hohe Beständigkeit der Zuordnung zu den Leistungsgruppen nach: Nur ein einziges der Kinder, welches zum ersten Messzeitpunkt als sehr schwach eingestuft wurde, schaffte es, bis zur 8. Klasse eine durchschnittliche Lesegeschwindigkeit zu erreichen. 

(nach Klipcera & Gasteiger-Klipcera 1993). Messzeitpunkte:
1: 2.Klasse (Mitte)
2:2.Klasse (Ende)
3: 3.Klasse
4: 4.Klasse
5: 8.Klasse

Und umgekehrt?

Wie ist es umgekehrt? Können Kinder, die eine gute Lesekompetenz entwickelt haben, auch wieder unter ihr erreichtes Niveau fallen? Auch das wurde in [4] untersucht: Das Ergebnis ist nicht überraschend. Von den anfänglich guten Lesern ist kein einziges Kind in seiner Schulzeit bis zur 8. Klasse unter das durchschnittliche Leseniveau gefallen.

Matthäus-Effekt

Dieses Ergebnis wird unabhängig vom Sprachraum immer wieder nachgewiesen und nennt sich Matthäus-Effekt (matthew effect) [5]. Dieser Effekt steht dafür, dass die Kompensation der Leistungsunterschiede im Regelunterricht oft nicht glückt. Anders ausgedrückt: Es ist einfach sehr schwer etwas aufzuholen, wenn man dem Rest einer Gruppe immer hinterherrennt.

Fazit

Wolfgang Lenhard [6] zieht folgendes Fazit:

  • (…) das Leseverständnis (…) entwickelt sich im Laufe der Schulzeit hinweg sehr schnell.
  • Die Entwicklungsverläufe sind unter herkömmlichen Unterrichtsbedingungen hochgradig stabil
  • Innerhalb der einzelnen Altersgruppen gibt es eine enorme Variabilität, jedoch bleibt die Ranghöhe der Kinder über die Zeit hinweg gleich. Kinder, die zu Beginn der Schulzeit leistungsschwach sind, werden ohne gezielte Förderung mit großer Wahrscheinlichkeit auf gegen Ende der Schulzeit zu den leistungsschwachen Kindern gehören. Leistungsstarke Schüler behaupten dagegen ihren Vorsprung, oder bauen diesen sogar noch aus.

Wird mein momentan leistungsschwacher Leser nie zum flüssigen Leser werden können?

Zum Glück nicht! Bei allen Kindern vollzieht sich eine sehr starke Entwicklung. Leseverstehen und Leseflüssigkeit sind effektiv förderbar. Je früher einem leistungsschwächeren Kind geholfen wird, desto eher kann es den Rückstand aufholen und an ein höheres Niveau anschließen.

Du willst es genauer wissen? Du betreust ein Kind, das noch nicht flüssig liest und irgendwie kaum Fortschritte zu machen scheint? Für Lerntherapeuten, Lehrer biete ich regelmäßig ein Seminar zum Thema „flüssig Lesen“ an. Danach bist Du fit in der Analyse des Lesestandes, kannst eine punktgenaue Förderung aufsetzen und hast eine laaaaaange Liste mit abwechslungsreichen Ideen zur Lesemotivation samt sinnvollem Material.

Wie kann man Kinder effektiv unterstützen?

Grundvoraussetzung für die Möglichkeit, Texte zu verstehen, ist die Automatisierung des Leseprozesses an sich. Solange ein Leser noch damit beschäftigt ist, sich das Wort mühsam zu er-lesen, hat sein Gehirn wenig Kapazitäten für die gleichzeitige Deutung des Begriffes. Daher ist es sinnvoll, an der Leseflüssigkeit anzusetzen. Erst, wenn die grundlegenden Lesefähigkeiten so entwickelt sind, dass das Lesen an sich nicht die Hauptarbeit darstellt, bieten sich weitere Maßnahmen im größeren Stil an. Wer anstrengungsfrei und flüssig liest, ist zudem deutlich motivierter, überhaupt zu lesen.

Warum ist es wichtig, die Leseflüssigkeit frühzeitig zu fördern und wo setzt man an?

Rosebrock et al [7] beschreiben den „Teufelskreis des Nicht-Lesens“ wie folgt:

Teufelskreis „Nicht-Lesen“

Durch mangelnde Lesefertigkeiten haben Kinder eine geringe Motivation, längere Texte überhaupt erst anzugehen und darüber zu sprechen, es sammeln sich die negativen Erfahrungen bezüglich des Lesens und es verfestigt sich ein Selbstbild als „Nicht-Leser“. Wer flüssig Lesen möchte, braucht jedoch vor allem eines: Übung. Lesen lernt man nur durch, genau, lesen – und deshalb sind Früh- und Vielleser klar im Vorteil: Sie verbessern sich automatisch durch die ständige Übung.

Beobachten oder frühzeitig Unterstützen?

Alles spricht für eine frühzeitige Unterstützung des Leselernprozesses. Je früher ein Kind ein kompetenter Leser wird, also flüssig lesen kann, desto

  • besser kann es sich auf Inhalte konzentrieren
  • mehr steigt die Wahrscheinlichkeit, dass es Freude am Lesen an sich hat
  • größer die Motivation und auch der Schulerfolg in anderen Fächern

Es ist also wichtig, von Beginn an auf ausreichende Übung zu achten.

Wie viele Wörter sollte man in welcher Klasse erwarten?

Das Ziel ist, bis spätestens Ende der 4. Klasse eine Lesegeschwindigkeit von 150 WPM zu erreichen. Das Landesinstitut für Schule empfiehlt, dass die Lesegeschwindigkeit pro Woche um ca. 0.9 WPM ansteigen sollte.
Daraus folgen in etwa diese Werte:

SchulstufeWPM zum Halbjahr
125-40
260-85
3105-120
4140-150

Ebenso kann man die Entwicklung der Lesefehler beobachten. Ziel ist hier eine Erreichung von 95% richtig dekodierten Wörtern (entspricht also einem maximalen Fehlerquotienten von 5 %).

Diese Werte liefern gute Anhaltspunkte für die Entwicklung der Lesekompetenz des Kindes. Sie sind einfach zu erheben und können auch von Eltern als Erfolgskontrolle eingesetzt werden. Ein einfaches Dokument, in dem man alle 4 Wochen die Fortschritte überprüft, zeigt auch dem Kind, dass sich sein Einsatz lohnt.

Gilt das für lautes oder leises Lesen?

für lautes Lesen. Rosebrock und Nix nennen in [8] folgende Werte:

„Am Ende der Jahrgangsstufe 2 lesen durchschnittliche Schülerinnen und Schüler etwa 80-90 WpM richtig vor, sehr gute Leserinnen und Leser etwa 115 WpM.

Am Ende der Jahrgangsstufe 4 lesen durchschnittliche Schülerinnen und Schüler etwa 130-140 WpM richtig vor, sehr gute Leserinnen und Leser etwa 165 WpM.“

Für das Verständnis: Wieso ist Lesen lernen eigentlich so schwer?

Erwachsene, die schon sehr lange flüssig Lesen, tun sich oft schwer damit, nachzuvollziehen, wieso das Kind einen bestimmten Buchstaben immer wieder nicht entschlüsseln kann. Hier hilft eine einfache Übung, um sich wieder in einen Leseanfänger zurückzuversetzen: Eine Fremdsprache mit anderen Schriftzeichen lernen. Ein Selbstversuch:

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Flüssig lesen… auch wenn man es schon raushat, muss es nicht einfach sein.

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Weiterführende Blogartikel/ Ressourcen

Wie lernen Kinder lesen – vom Buchstaben bis zum Wort

Dinas playliste auf youtube zum Thema Lesen – Tipps und Spiele zur Leseförderung

Literatur und Studien:
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[1] Rosebrock/ Nix: Grundlagen der Lesedidaktik: und der systematischen schulischen Leseförderung. Baltesmannweiler: Schneider. 5. Auflage 2011.

[2] Rasinskis, T.V.: The fluent reader, Oral strategies for building wird recognition, fluence and comprehension. Scholastic Inc. New York u.a. 2003

[3]Klipcera und Gasteiger-Klipcera in „Lesen und Schreiben-Entwicklung und Schwierigkeiten: Die Wiener Längsschnittuntersuchungen über die Entwicklung, den Verlauf und die Ursachen von Lese- und Schreibschwierigkeiten in der Pflichtschulzeit“ Bern: Huber

[4] Hulslander et al.L : Longitudinal stability of reading-related skills and their prediction of reading development, Scientific studies of reading, 14, 111-136

[5] Stanovich, K.E: Matthew effects in reading: some consequences of individual differences in the acquisition of literacy. Reading research quartely, 21, 360-407

[6] Lenhard, W: Leseverständnis und Lesekompetenz, Grundlagen-Diagnostik-Förderung, Kohlhammer 2013

[7] Rosebrock, C, Nix, D., Rieckmann, C., Gold, A.: Leseflüssigkeit fördern. Lautleseverfahren für die Primar- und Sekundarstufe, Kallmeyer 5. Auflage 2017

[8] Rosebrock, Cornelia; Gold, Andreas; Nix, Daniel; Rieckmann, Carola (2011). Leseflüssigkeit fördern: Lautleseverfahren für die Primar- und Sekundarstufe. Seelze: Klett-Kallmeyer, S. 54 ff.

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